Bei einem Auffahrunfall ist der Hintermann nicht immer schuld.
Die umgangssprachliche Aussage „Den Auffahrenden trifft die Schuld“, ist nicht immer zutreffend. Es gibt Konstellationen, bei denen ein – rein technisch betrachtetes – Auffahren nicht zwangsläufig zur Haftung des Auffahrenden führt. Grundsätzlich stellt sich die Rechtslage wie folgt dar: Der Hintermann hat zum Vordermann ausreichend Abstand einzuhalten, um jederzeit unfallvermeidend abbremsen zu können. Kommt es gleichwohl zum Auffahrunfall, spricht im normalen Straßenverkehr der erste Anschein für einen Fahrfehler des Hintermanns. Denn hätte er den Sicherheitsabstand eingehalten, hätte er auch rechtzeitig abbremsen können.
Dieser Beweis des ersten Anscheins kann allerdings erschüttert werden. Dies ist insbesondere dadurch möglich, dass der Auffahrende nachvollziehbar eine Situation schildert, die gerade nicht den Schluss auf einen zu geringen Sicherheitsabstand zulässt. Hierzu 2 Beispiele.
Angenommen, zwei Pkw stehen hintereinander an einer roten Ampel, die auf „grün“ umschlägt. Nachdem beide Pkw angefahren sind, bremst der Vordermann ab und der Hintermann fährt hinten auf. Nach der oben genannten Daumenregel müsste also der Auffahrende die Schuld am Unfall wegen mangelnden Sicherheitsabstandes treffen. Das ist aber falsch:
Bei der Ampelanfahrt gilt der Vorrang des fließenden Verkehrs. Wer in dieser Phase beispielsweise grundlos stark abbremst, kann für den daraus folgenden Auffahrunfall gegebenenfalls bis zur vollen Höhe einstandspflichtig sein. Hat der Vordermann wegen einem anderen, sich verkehrswidrig fahrenden Verkehrsteilnehmer bremsen müssen, käme überdies eine direkte Inanspruchnahme dieses „Verkehrssünders“ durch den Auffahrenden in Betracht.
Der Auffahrende sollte aber unbedingt darauf achten, dass ein Zeuge vorhanden ist, der bekunden kann, dass die Beteiligten zuvor an der roten Ampel gestanden haben. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Vordermann behauptet, die Ampel habe bereits grün gezeigt und man sei einfach durchgefahren. Dann würde es sich wegen des fließenden Verkehrs wieder um einen Auffahrunfall handeln. Kann das nicht aufgeklärt werden, führt es mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Schmälerung der Ansprüche bis zum Anspruchsverlust.
Sowohl die Sachverhaltsaufklärung als auch die rechtliche Würdigung kann problematisch werden, wenn ein Spurwechsler sich vor einen Pkw drängt und dessen Bremsweg so stark verkürzt, dass dieser nicht mehr rechtzeitig anhalten kann und auffährt. Der später hinzukommende Polizeibeamte sieht nur die Folge: Ein Pkw ist dem anderen aufgefahren, also: Hintermann ist schuld.
Dabei ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Verkehrsunfall im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Spurwechsel ebenfalls den ersten Anschein begründet, dass der Spurwechsler den Unfall verursacht hat. In Kombination mit einem Auffahrunfall nach einem Spurwechsel vermischen sich also zwei Konstellationen miteinander, die isoliert betrachtet vom ersten Anschein her beiden Unfallbeteiligten die alleinige Unfallverursachung zuweisen könnten.
Für den Fall, dass der Unfallhergang nicht aufgeklärt werden kann, hat dies für den – eigentlich - unverschuldet Auffahrenden die missliche Folge, dass er nur einen Teil seines Schadens ersetzt bekommt. Schlimmer noch: Macht der andere Beteiligte seine Ansprüche geltend und erhält er diese von der Kfz-Haftpflicht des Auffahrenden auch anteilig ersetzt, führt dies zu einer Prämienrückstufung bei der Kfz-Haftpflichtversicherung.
Daher sollte der Auffahrende unbedingt darauf achten, dass Namen und Adressen etwaiger Zeugen sowie Fotos gefertigt werden.
Bleibt die Frage zunächst offen, ob der Unfall durch Unaufmerksamkeit des Auffahrenden oder durch das plötzliche Dazwischendrängeln verursacht worden ist, wird sich spätestens vor Gericht ein Sachverständiger damit befassen. Dieser erstellt dann ein so genanntes „Unfallrekonstruktionsgutachten“. Jede Information zum Unfallhergang kann dann Gold wert sein.
Anderenfalls wird sich der Sachverständige nur mit den Angaben der Parteien und dem Schadensbild auseinandersetzen können und mit Plausibilitäten arbeiten müssen. Bleiben beide Sachverhaltsvarianten plausibel, bleibt es auch bei der Schadenteilung.
Co-Autor: RA Massimo de La Riva
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